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Von Pascal Couchepin bis Andri Silberschmidt: Stets scheitert die FDP an der AHV. Aus politischem Ungeschick, ideologischer Sturheit und mangelnder Weitsicht.
Es ist der 26. Mai 2003, ein wolkiger Frühsommertag. Im roten Pulli marschiert Pascal Couchepin voran, um ihn ein Journalistentross. Der Bundespräsident hat zum Medienausflug auf die St. Petersinsel geladen. Das Interesse ist gross. Fünf Tage zuvor war Couchepin in einer Bundesratssitzung unerwartet mit einem Papier aufgekreuzt, das brisante Reformvorschläge zur AHV enthielt. Tiefere Renten, höhere Mehrwertsteuerprozente und ein Novum: das Rentenalter 67.
«Couchepin demissionne», rufen Gewerkschafter, die an diesem Montag extra an den Bielersee gefahren sind. Der Magistrat bleibt gelassen, schiebt deren Fahnen beiseite, plaudert mit den Protestierenden. Doch der Schaden ist angerichtet. Der «AHV-Schocker» habe ein «Chaos angerichtet», meint die Presse. Der «SonntagsBlick» ermittelt in einer Eilumfrage: Nur 19 Prozent befürworten ein höheres Rentenalter – eine «Ohrfeige für König Couchepin».
Rasch wird klar: Die Idee des Walliser Bundesrats, der als neuer Innenminister eine Debatte lancieren will, ist ein Rohrkrepierer. Das Pensionierungsalter ist hochsensibel. Seit Einführung der AHV im Jahr 1948 liegt es bei 65 Jahren. Wer daran etwas ändern will, muss nicht nur auf einen Kritiksturm gefasst sein. Sondern er sollte auch ein ziemlich gutes Gesamtpaket auf den Tisch legen, das den Leistungsabbau in der Altersvorsorge in irgendeiner Form kompensiert.
Firmen sind offener für Ältere
Man müsste meinen, dass die Politik diese Lektion nach Couchepins Misstritt gelernt hat. Doch weit gefehlt. In den zwanzig Jahren, die seither vergangen sind, gab es immer wieder Anläufe, um das Rentenalter zu erhöhen. Doch es wurden stets dieselben, unausgegorenen Konzepte vorgebracht. Immer waren dieselben Akteure (FDP und Wirtschaftsverbände) dafür – und immer dieselben Akteure (SP, Grüne und Gewerkschaften) dagegen. Unverändert werden bis heute auch dieselben Pro- und Kontra-Argumente diskutiert wie schon 2003.
Das ist umso erstaunlicher, als sich die Arbeitswelt in der Zwischenzeit stark verändert hat. Zu Zeiten Couchepins waren Frühpensionierungen sehr beliebt. Viele, die es sich leisten konnten, gingen vorzeitig in Rente. Und die Wirtschaft sah ihrerseits keinen Anlass, Menschen über 65 Jahre zu beschäftigen. Firmen wie die UBS waren stolz darauf, dass sämtliche Angestellten bei ihnen vorzeitig in die Pension konnten. Ganze 86 Prozent der Betriebe gaben 2003 in einer Umfrage der «Handelszeitung» an, sie sähen nicht ein, warum sie von einer allgemeinen Erhöhung des Rentenalters profitieren würden.
Heute wird anders über die Erwerbsarbeit im Alter gesprochen. Es herrscht Fachkräftemangel, und die Firmen reagieren darauf. Drei Viertel der Betriebe ermöglichen den Angestellten laut Umfragen, über das ordentliche Rentenalter hinaus weiterzuarbeiten. «Viele Firmen haben in diesem Bereich schon einiges getan», sagt Severin Moser, der Präsident des Arbeitgeberverbandes und Befürworter eines höheren Rentenalters. Rund die Hälfte bis zwei Drittel der Erwerbstätigen können sich im Gegenzug vorstellen, unter gewissen Bedingungen (etwa in einem kleineren Pensum) über das 65. Lebensjahr hinaus zu arbeiten.
Sicher: Es ist nicht alles rosig am Arbeitsmarkt für über 60-Jährige. Das räumt auch Severin Moser ein: «Wir können noch mehr tun, um die Bedingungen für ältere Erwerbstätige zu verbessern.» Doch im Vergleich zu 2003 sind die Firmen eben doch an einem ganz anderen Punkt. Der damalige Direktor des Arbeitgeberverbandes gab gegenüber dem «Tages-Anzeiger» unverblümt zu: «Die Forderung nach einem höheren Rentenalter ist heute unrealistisch.»
Vom Rentenalter zur Lebensarbeitszeit
Im Jahr 2009 ist es die Denkfabrik Avenir Suisse, die das Thema wieder aufgreift. Sie schlägt in einer Studie vor, das Rentenalter entsprechend der Lebenserwartung schrittweise zu erhöhen. 2018 stünde es demnach bei 66 Jahren, 2026 bei 67 Jahren. Mitgedacht ist auch eine Option für die Frühpensionierung: Menschen, die jung ins Erwerbsleben einsteigen, sollten auch früher in Rente gehen können – ohne Abzug bei den Leistungen.
Dieses sogenannte Lebensarbeitszeitmodell trägt dem Umstand Rechnung, dass die Karrieren nicht in allen Berufen gleich lange dauern – Handwerkerinnen und Pfleger beenden ihre Laufbahn früher als Professorinnen und Consultants. Das Modell ist sehr populär: Schon 2003 kommentierte etwa der «Blick», es brauche ein «Rentenalter nach Mass» statt einer einheitlichen Rente mit 67. Bis heute geniesst das Lebensarbeitszeitmodell viel Sympathie. In einer 2020 geführten Umfrage sprachen sich etwa 73 Prozent der Befragten dafür aus.
Doch weder der Bundesrat noch die bürgerlichen Parteien greifen den Ball auf. Und so behalten die Gewerkschaften die Deutungshoheit. Ihre Position ist simpel und klar: Rentenaltererhöhungen sind unsozial und strikt abzulehnen.
Diese Haltung ist nachvollziehbar. Wird die Bevölkerung durch ein höheres Rentenalter dazu animiert, länger zu arbeiten, dann fördert das zwar den Gesamtwohlstand. Aber den einfachen Arbeiterinnen und Arbeitern bringt das nicht viel. Im Gegenteil: Steigt das Alter, ab dem man Anspruch auf eine volle Rente hat, so läuft das für sie in der Regel auf eine Rentenkürzung hinaus.
Mit aus diesem Grund sind Heraufsetzungen des Rentenalters politisch sehr heikel. «Damit solche Reformen beim Volk eine Chance haben, müssen sie sorgfältig austariert sein», sagt Silja Häusermann, Politikwissenschaftlerin an der Universität Zürich. «Es braucht neben den Einschnitten auch Aspekte, die von der Bevölkerung als vorteilhaft empfunden werden. Und es muss sich eine überparteiliche Allianz bilden, die mit Überzeugung für das Paket einsteht.»
Dieser Schluss liegt eigentlich auf der Hand – man braucht dafür keinen Doktortitel, gesunder Menschenverstand genügt. Doch es sollte ein weiteres Jahrzehnt vergehen, bis dies auch ein Politiker aus der FDP einsehen würde.
Grabenkämpfe statt innovative Lösungen
In der Zwischenzeit geht es in Bundesbern jedoch in eine komplett andere Richtung. Die Beratungen über die Altersvorsorge 2020, dem grossen Reformprojekt von Bundesrat Alain Berset, arten zum parlamentarischen Kleinkrieg aus. Die Stimmung in der Wandelhalle wird «aggressiv, giftig, laut», wie der «Tages-Anzeiger» schreibt. In entscheidenden Kommissionssitzungen decken sich Parlamentsmitglieder mit Buhrufen und Schimpftiraden ein.
Der bürgerlich dominierte Nationalrat will das Rentenalter 67 in Form einer Schuldenbremse in die AHV einbauen: Das Rentenalter soll automatisch erhöht werden, falls sich die Finanzen des Vorsorgewerks verschlechtern. Propagiert wird dieser Automatismus auch von den Wirtschaftsverbänden – mit der Illusion, dass dies die Debatte entkrampfen würde, und mit dem vagen Hinweis, dass die Sozialpartner in Tieflohnbranchen allfällige Ausnahmen später selbstständig beschliessen könnten. Die Massnahme sei «unumgänglich», sagt Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler, der intensiv dafür lobbyiert.
Der linkere Ständerat will davon aber nichts wissen. Er erhöht stattdessen die AHV-Rente um den symbolischen (aber umstrittenen) Betrag von 70 Franken. Im Parlament setzt sich die kleine Kammer durch. Doch am Ende scheitert die Vorlage 2017 vor dem Volk. Die Politik zieht aus dem Fiasko den Schluss, dass sie besser die Finger lassen sollte von visionären und umfassenden Altersreformen. Lieber in Minischrittchen vorangehen, lautet fortan die Devise.
Einer sieht das jedoch ganz anders. Andri Silberschmidt, der damals Präsident der Jungfreisinnigen war, verlangt als Nächstes einen Quantensprung: Das Rentenalter soll auf 66 steigen und an die Lebenserwartung geknüpft werden.
Im Regen stehen gelassen
Es gibt gute Gründe, so etwas zu tun. Das offizielle Rentenalter ist eine wichtige Stellschraube: Nicht nur die Erwerbstätigen, sondern auch viele Betriebe richten sich in ihren Personalreglementen noch immer danach. Will man die Erwerbsbeteiligung im Alter steigern, so ist eine Rentenaltererhöhung extrem effektiv. Ausserdem trägt sie dazu bei, die Finanzen in der AHV zu stabilisieren.
Diverse europäische Länder haben das Rentenalter bereits über 65 erhöht. Und auch in der Schweiz scheint die Zeit dafür bald reif. Das geht aus Umfragen hervor, die über die vergangenen zwei Jahrzehnte hinweg (mit jeweils leicht unterschiedlichen Fragestellungen) durchgeführt wurden. 2022 sprachen sich in einer Swisslife-Studie etwa schon 43 Prozent für ein höheres Rentenalter aus.
Doch um eine Volksabstimmung zu gewinnen, reicht das nicht. Das dämmert auch Andri Silberschmidt, nachdem seine Initiative für gültig befunden wird und zur Beratung ins Parlament kommt. Und so beginnt er, für einen Gegenvorschlag zu weibeln: Das höhere Rentenalter könne mit einer Regel ergänzt werden, die langjährigen Erwerbstätigen in Anlehnung an das Lebenarbeitszeitmodell nach 44 Jahren die Pension ohne Einbusse ermöglicht.
Oder, so lautet eine andere Idee, die Silberschmidt in die Diskussion einbringt: Leute mit niedrigem Einkommen könnten als Kompensation für das höhere Rentenalter eine «massvolle, gezielte Erhöhung der Renten» erhalten (eine Motion mit ähnlichem Text wird im Parlament wohlwollend aufgenommen).
Doch 2023 läuft er im Parlament damit auf. SVP und die Mitte wollen der Linken vor den Wahlen keine Angriffsfläche bieten. Der FDP und ihrer Jungpartei wiederum mögen sie keinen Prestigeerfolg gönnen. So wird die Initiative in beiden Räten schliesslich ohne Gegenvorschlag abgelehnt.
Warten auf die nächste Reform
Es ist der 9. Februar 2024, drei Wochen bleiben bis zur Abstimmung. Andri Silberschmidt steht im beigen Sakko in der «Arena» des Schweizer Fernsehens und verteidigt die Renteninitiative. Seine Argumente sind gut, aber allen ist klar: Die Jungfreisinnigen sind auf verlorenem Posten. Abgesehen von einigen jungen SVP-Leuten leistet ihnen in diesem Augenblick niemand Schützenhilfe.
Wahrscheinlich wird das Volk die Renteninitiative verwerfen. Und darauf zählen, dass Bundesrat und Parlament bis 2026 eine weitere Reform aufgleisen, die die Altersvorsorge fit für die Zukunft macht. Wer weiss: Vielleicht haben die liberalen Kräfte ja bis dann etwas aus der Geschichte gelernt.